Von der Nachsorge zur Vorsorge?
Diskussion am IAT über Baustellen beim Umbau der Sozialpolitik
Pressemitteilung vom 12.07.2013
Redaktion:
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Mit einer vorsorgenden Sozialpolitik den Sozialversicherungsstaat auf neue Grundlagen stellen – wie geht das und wie lässt sich das bezahlen? Am Institut Arbeit und Technik (IAT /Westfälische Hochschule) in Gelsenkirchen diskutierten jetzt Wissenschaftler und Praktiker mit Prof. Dr. Wolfgang Schröder, Staatssekretär im Ministerium für Arbeit, Soziales, Frauen und Familie in Brandenburg und Sozialwissenschaftler an der Universität Kassel, über sein Buch „Vorsorge und Inklusion – wie finden Sozialpolitik und Gesellschaft zusammen?“
Im enormen Wandel von Gesellschaft und Arbeitswelt können laut Schröder die Institutionen des Sozialstaats nicht mithalten. Höchste Zeit sei es, die alltäglichen Lebenslagen der Menschen in den Blick zu nehmen. „Aus prekären Lebenslagen Lebenschancen machen“. Dazu sind Netzwerke zwischen den Institutionen notwendig, die Brücken bauen zwischen staatlichen Einrichtungen und den Lebenswelten, um eine individuelle Förderung zu erreichen. Die haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeiter in diesen Netzwerken müssen für diese Aufgaben besser qualifiziert – und auch bezahlt – werden, fordert Schröder. Vorsorgende Sozialpolitik heißt für ihn: So früh wie möglich fördern, wobei Vorsorge nicht im Gegensatz zur Nachsorge stehen soll. Vielmehr könne eine wirksam vorsorgende Sozialpolitik auch die Sozialversicherungen entlasten und am Ende weniger kosten, indem innerhalb der bestehenden Sozialquote umverteilt wird.
Beispiele führte er aus dem Land Brandenburg an: So unterstützt das Netzwerk „Gesunde Kinder“ mit einer Kombination von Institutionen und Ehrenamt junge Familien mit passgenau auf die Bedürfnisse zugeschnittenen Angeboten des Gesundheitswesens und der Jugendhilfe. Rund 1000 ehrenamtliche Paten gibt es inzwischen, erreicht werden 5 bis 10 Prozent aller Kinder. Auch in der Pflegepolitik ist man unterwegs und verfolgt mit einem interdisziplinären Ansatz zum einen die sozialräumliche Unterstützung, zum anderen die Anwerbung und Qualifizierung von Pflegekräften, aber auch die Gestaltung von Pflegearbeitsplätzen, da Fachkräftemangel längst zur existenziellen Standortfrage wird.
Beim Ausbau der Vorsorge hat sich Gelsenkirchen klar positioniert, wie Alfons Wissmann, Referatsleiter Erziehung und Bildung der Stadt, aufzeigte: „Das Bildungs- und Teilhabepaket macht als Strohfeuer keinen Sinn“, deshalb wurden u.a. der Einsatz der Schulsozialarbeit zeitlich gestreckt, um mehr Kinder zu erreichen, der Soziale Dienst aufgestockt, Familienbildung und Familienförderung zusammengefasst. Die Vorsorgeanstrengungen wirken sich finanziell erst mit Verzögerungen aus, letztlich ergeben sich aber Einsparungen, so das Fazit. Petra Kersting vom Zentrum Frau in Beruf und Technik, Castrop-Rauxel, zeigte auf, wie Unternehmen vorsorgend tätig sein können, indem sie Mitarbeiter, die Angehörige pflegen, unterstützen und damit Unterbrechungen der Berufslaufbahn vermeiden. Vor allem Flexibilisierung von Arbeitszeit und Arbeitsort und die Vorort-Vernetzung in den Kommunen wirkten hier erfolgreich.
Michaela Evans vom Institut Arbeit und Technik beleuchtete Probleme des Fachkräftemangels in der Pflege: „Hier geht es nicht allein um quantitative Dimensionen, sondern um Qualität und Strukturen.“ In der Debatte um Wertschätzung der Pflegearbeit helfen Werbekampagnen nicht, da die Arbeitsbedingungen wenig attraktiv sind. Disparitäten der Löhne – zwischen Regionen, aber auch zwischen Einrichtungen – sind ein weiteres Problem. Im Pflegebereich ist deshalb auch eine neue Zusammenarbeit zwischen Sozialpartnern und der öffentlichen Hand gefordert.
Prof. Dr. Rolf Heinze von der Ruhr-Universität Bochum kritisierte das „unkontrollierte Wachstum der Netzwerke“. Es gebe ein paar gute Ansätze, aber alle Netzwerke wollten mit der Zeit zu Institutionen werden, wobei nach wie vor „zersplittertes Denken und wenig interkommunale Kooperation der Akteure“ vorherrschten. Um den Urwald zu lichten, sollten die bestehenden Netzwerke evaluiert und notfalls auch rückgebaut werden, sofern sie öffentlich gefördert werden“, so sein Vorschlag. IAT-Direktor PD Dr. Josef Hilbert benannte zum Abschluss noch einmal die Baustellen für den Umbau zur vorsorgenden Sozialpolitik: Kinder und Jugend, Bildungsübergänge, Pflege. Notwendig seien eine Plattform für den Austausch und ein Monitoring. Auf zentraler Ebene wichtigste Baustelle sei die Organisation der Sozialpartner.
Für weitere Fragen stehen Ihnen zur Verfügung:
Josef Hilbert(Gesundheitswirtschaft & Lebensqualität, Gemeinsame Versorgung im Ruhrgebiet)
Michaela Evans-Borchers(Arbeit & Wandel)