Perspektiven europäischer Strukturpolitik nach 2006 - Reformbedarf und Konsequenzen für NRW / StruPo 2006
Das Ziel dieser Expertise besteht darin, die anlaufende Diskussion um die Neugestaltung der Strukturpolitik nach 2006 zu strukturieren, offene Fragen herauszuarbeiten und unterschiedliche Alternativen aus der Sicht Nordrhein-Westfalens zu bewerten. Unsere Untersuchung kommt zu dem Ergebnis, dass eine grundlegende Neuorientierung der Strukturpolitik in NRW notwendig ist, die sich als “Qualitätswettbewerb der Standorte” beschreiben ließe. Dies gilt unabhängig vom Ausgang der im Zusammenhang mit der EU-Erweiterung unumgänglichen Diskussion um eine Reform der europäischen Strukturpolitik. Es wird in den kommenden Jahren wesentlich darum gehen ob es gelingt, die strategischen und organisatorischen Voraussetzungen für eine derartige Reform zu schaffen.
Ausgangspunkt der Studie ist zunächst weniger die Regionalpolitik selbst als eine Betrachtung des Finanzsystems und der Wettbewerbspolitik der Union. Wenn die in Berlin vorgenommene Begrenzung des EU-Budgets auf 1,27% des EU-BIP wie der Strukturmittel auf 0,46% des EU-BIP beibehalten werden soll, muss die Einnahmen- wie die Ausgabenseite reformiert werden. Ohne eine Veränderung auf der Einnahmeseite besteht wenig Anreiz, notwendige strukturelle Reformen auf der Ausgabeseite durchzusetzen, und umgekehrt. Hier liegt der Kern des Reformproblems.
Die Positionen zu einer Reform der Strukturpolitik konzentrieren sich auf eine Fortschreibung des Status quo und eine radikale Reform in Richtung auf einen Finanzausgleich. Wenn bei der anstehenden EU-Erweiterung die derzeit geltenden regionalen Qualifizierungskriterien für die Strukturfonds strikt beibehalten werden, bedeutet dies für NRW das Ende der EU-Strukturförderung; die NRW-Regionalpolitik wäre damit auf originäre Landesmittel und die GRW (vorausgesetzt, sie bliebe unverändert bestehen) reduziert. Dennoch würde für Deutschland insgesamt das Problem der ungleichgewichtigen Beitragsbelastungen ungelöst bleiben.
Bei einem Finanzausgleich statt Strukturpolitik würde der Spielraum für die Landespolitik allenfalls langfristig grösser, denn hier greift das zweite Interventionsinstrument der Union, die EU-Wettbewerbspolitik. Die DG Wettbewerb würde die Förderpolitik des Landes mindestens so stark regulieren und kontrollieren wie bisher die DG Regionalpolitik. Es ist deshalb nicht anzunehmen, durch einen Wegfall der Strukturfonds kurzfristig ein Mehr an Handlungsfreiheit gewinnen zu können (auch wenn dies durch eine oberflächliche Betrachtung des Finanzausgleichs-/ Nettofondskonzepts suggeriert wird).
Bei einer Schließung der Strukturfonds für die westeuropäischen Regionen stellt sich die Frage, wie die daraus folgende Renationalisierung der Strukturpolitik auszugestalten wäre, und ob davon Effizienzgewinne zu erwarten wären. Offene Fragen bleiben vorläufig auch die strategische Ausrichtung der europäischen Wettbewerbs- und Beihilfenkontrollpolitik, die Verteilung eingesparter Mittel, falls es für die Bundesrepublik zu einer Beitragsentlastung käme, und schließlich, wie mittelfristig zu erwartende nationale und regionale Verteilungskonflikte geregelt werden können.
Neue Strategien sind demnach unter der Prämisse zu entwickeln, dass einer an der Umverteilung von Sachinvestitionen orientierten Strukturpolitik sowohl auf der Bundes- wie auf der Landesebene der Boden weitgehend entzogen sein wird. Übrig bleiben Aktivitäten und Massnahmen im Bereich der Humankapitalbildung, der gegenwärtig vom “Ziel-3” umfasst wird. Für NRW ginge es hier weniger um eine “grundsätzliche” strukturpolitische Neuorientierung, sondern um die konsequente Akzentuierung und forcierte Weiterentwicklung vorhandener Politikansätze: die Entwicklung einer wachstumsorientierten, an den regionalen Potenzialen ansetzenden und die lokalen/regionalen Kompetenzen entwickelnden Strukturpolitik. Dieser Spielraum für regional spezifische Lösungen muss aus unserer Sicht auf jeden Fall politisch frei gehalten werden.
Ansätze zu einer solchen Politik sind vorhanden, werden in den einzelnen NRW-Regionen aber mit äusserst unterschiedlicher Kompetenz und Effizienz praktiziert. Notwendige Maßnahmen müssen allerdings jetzt und nicht erst 2004/5 konzipiert werden. Vor allem geht es darum, die notwendigen institutionellen Strukturen flächendeckend auszubauen und zu professionalisieren. Dennoch bedarf es noch intensiver Diskussion um zu klären, was realistisch mit derartigen Ansätzen erreicht werden kann, um hier keine Illusionen entstehen zu lassen. Es sind aus unserer Sicht v.a. vier Elemente, die die Richtung angeben:
- Der strategische Grundgedanke ist, Standortwettbewerb als Qualitäts-/ Kompetenzwettbewerb zu begreifen und nicht als Kostenwettbewerb;
- Bezugspunkt ist die Entwicklung vorhandener Kompetenzen, sowohl um unausgeschöpfte Wachstumspotentiale im Innern zu erschliessen wie auch um die Standortattraktivität für Ansiedlungen von Aussen zu erhöhen;
- es muss eine Verknüpfung mit anderen Politikfeldern erfolgen, insbesondere mit der Innovations- und Technologiepolitik, ohne zugleich in eine unrealistische Multidimensionalität der Ziele (und Erwartungen) zu verfallen;
- erster Schritt ist, die bisherigen Erfahren zu evaluieren und systematisch aufzuarbeiten, kritisch zu diskutieren und zu einem neuen Konzept regional differenzierter Politik zu verdichten.
Angesichts der auch weiterhin strukturpolitisch prägenden Bedeutung der europäischen Wettbewerbs- und Beihilfekontrollpolitik bleibt jedwede strategische Neukonzeption in einen europäischen Diskussionszusammenhang eingebunden, an dem sich NRWso intensiv wie möglich beteiligen sollte. Von daher sollte die Konzeption einer regionalen Strukturpolitik, die auf Qualitätswettbewerb/Kompetenzentwicklung setzt, in Zusammenarbeit mit anderen europäischen Regionen erfolgen.
In einer weiteren europäischen Perspektive ist die Strukturpolitik der Union stärker von der Vielfalt der Regionen her zu denken. Ausgangslagen und Entwicklungsvorstellungen der Regionen sind zu unterschiedlich, als dass sie sich in wenigen statistisch definierten Problemlagen zusammenfassen ließen. Dies gilt in besonderem Masse für die Beitrittsländer. Grundlegend ist dafür die Abkopplung der Kohäsionspolitik von den Strukturfonds und statt dessen die Einführung eines Finanzausgleichs zugunsten dieser Länder. Für die übrigen Mitgliedsländer (aber auch die Kohäsionsländer) erscheint eine Neubestimmung der Funktion der Beihilfekontrolle notwendig. Die entscheidende Gefahr für eine neuorientierte Strukturpolitik besteht darin, dass über die Beihilfekontrolle eine Vereinheitlichung der institutionellen und konzeptionellen Bedingungen herbeigeführt wird, dass eine Erweiterung öffentlicher Aktivitäten etwa in Form einer auf Qualität abzielende Standortentwicklung immer dem indirekten Subventionsverdacht ausgesetzt wird. Von daher wäre auch eine europäische Diskussion über öffentliche Aufgaben (und ihre Verteilung), öffentliche Güter und um ein modernes Verständnis von Infrastruktur notwendig.
Die EU-Kommission hat viel dazu beigetragen, die Reflexivität strukturpolitischer Massnahmen zu erhöhen. Kosten-Nutzen-Analysen, Evaluierungen und Wirkungsanalysen sind wesentlich von der Kommission eingefordert und vorangetrieben worden. Damit hat die Kommission Lernprozesse initiiert, die aus einer künftigen, auch re-regionalisierten Strukturpolitik nicht mehr wegzudenken sind. Derartige Lernprozesse weiter voranzutreiben, gerade auch durch den Austausch zwischen den Regionen, könnte auch unter sozialen und kulturellen Aspekten eine Kompetenz der EU bilden, die zu dem immer wieder eingeforderten “europäischen Mehrwerts” beiträgt.
Eine Gefahr einer “Re-Regionalisierung” der Strukturpolitik sollte allerdings nicht übersehen werden: Die Herausbildung regionaler Identitäten ist oft mit einem exklusiven Blick nach Innen verbunden. Die Erfahrungen der Regionalisierung von Politik in Deutschland zeigen dies recht deutlich. Diese Binnenorientierung läuft Gefahr, den Blick für den europäischen und auch den globalen Kontext zu trüben, in dem die Regionen ökonomisch agieren, und so die ausserhalb der Region ablaufenden Entwicklungen aus dem Auge zu verlieren. Damit besteht die Gefahr von Abkopplungs- bzw. Abschließungstendenzen, die die Gefahr der Stagnation beinhaltet.