Virtuelle Fabrik Rhein-Ruhr / VirFaRR
Ziel und Aufgabenstellung
Die Geschäfte in der Investitionsgüterindustrie sind typischerweise heftigen und eher zunehmenden zyklischen Schwankungen unterworfen. Diese Schwankungen können nicht immer vollständig durch flexible Arbeitszeitregelungen aufgefangen werden. Daraus ergeben sich für die betroffenen Unternehmen extreme Anforderungen an die Kapazitätsanpassung, und, verbunden damit, an den Erhalt und die Entwicklung von Kernkompetenzen.
Diesem Problemdruck sollte auf Initiative eines großen Maschinenbauers durch die Bildung eines regionalen Kooperationsnetzwerks als “virtueller Fabrik” mit zunächst neunzehn Partnern (mit zusammen 6.800 Beschäftigten) begegnet werden. Strategisches Ziel war, ein solches Netzwerk als handlungsfähigen “Player” am Markt zu etablieren. Dieser Ausgangslage entsprechend ging es darum,
- freie Kapazitäten durch Netzwerkpartner kostengünstig zu nutzen, um Kernkompetenzen zu erhalten und Umsatzschwankungen besser zu bewältigen,
- unterschiedliche Kompetenzen der Partner zu kombinieren, um komplexe, neue Leistungen anbieten zu können,
- für das Netzwerk insgesamt ein breiteres Leistungsspektrum zu erreichen und durch gezielte Kompetenzentwicklung auch neue Geschäftsfelder zu erschließen.
Vorgehen
Vorliegende Erkenntnisse zu Kooperationsverbünden beziehen sich fast ausschließlich auf die Bedingungen der Verbundbildung. Weniger untersucht waren die Koordination und das Management der virtuellen Fabrik und organisationale Veränderungen bei den Partnern. Dabei stand die Bearbeitung fgd. Dilemmata im Vordergrund des Untersuchungsinteresses:
- Wie lässt sich ein virtuelles Unternehmen trotz hoher Dynamik und Autonomie der Partner als strategisch handlungsfähige Einheit zusammenhalten (Kohärenzdilemma)?
- Wie gelingen rasche Problemlösungen trotz hohem, tendenziell langwierigen Abstimmungsbedarfs unter den Kooperationspartnern (Verhandlungsdilemma)?
- Wie können daraus resultierende Komplexitätssteigerungen im Hinblick auf Organisation und Management eines virtuellen Unternehmens angemessen begrenzt werden (Komplexitätsdilemma)?
- Wie lassen sich trotz hoher Autonomie der Kooperationspartner Wertschöpfungsprozesse wirtschaftlich steuern (Kontrolldilemma)?
Die durchgeführte Fallstudie basiert auf Expertengesprächen mit führenden Akteuren bei Partnerunternehmen sowie auf der Auswertung relevanter Dokumente.
Ergebnisse
Im Verlauf der Untersuchung wurden von den Beteiligten wahrgenommene Probleme identifiziert, Lösungsoptionen aufgezeigt und Realisierungsbedingungen analysiert.
1. Netzwerkmanagement
Für die Geschäftsbereiche der “virtuellen Fabrik” wurden regelmäßige Plenartreffen der Partner als zentrale Steuerungsinstanz durchgeführt. Dort wurden Sachthemen, aber auch aufgetretene Schwierigkeiten besprochen. Zudem dienten die Treffen auch der strategischen Orientierung. Für das operative Netzwerkmanagement entstanden zwei neue Rollen: die Rolle von Brokern zur Anbahnung von Aufträgen, und die Rolle der Generalunternehmerschaft deren Abwicklung praktisch jeweils von einem Projektleiter wahrgenommen wurde. Schwierigkeiten traten vor allem bei nicht ausreichenden funktionalen Spezifikationen der Aufträge auf, worauf die Broker allerdings besonders zu achten lernten.
2. Kohärenz
Durch erfolgreiche Projektabwicklung hat sich unter den Partnern ein gutes Kommunikationsklima und Vertrautheit entwickelt, deren Qualität weit über die normaler Kunden-Lieferanten-Beziehungen hinausgeht. Die Vergabe von Aufträgen wird zunächst intern geklärt, um eigene Kompetenzen der Virtuellen Fabrik (sofern sie wettbewerbsfähig sind) zu nutzen. Zunehmend kam es zur Teilnahme an Ausschreibungen mit gemeinsam zu erbringenden, komplexen Leistungsangeboten. Insgesamt findet die Virtuelle Fabrik Rhein-Ruhr ganz überwiegend positive Resonanz bei den Partnern, nicht nur im Management, sondern auch bei Beschäftigten und Betriebsräten. Allerdings sind die positiven wirtschaftlichen Effekte, gemessen am Gesamt-Geschäftsvolumen, noch gering.
3. Verhandlung
Auch wenn das Großunternehmen dominant erscheinen könnte, spielte dies in der laufenden Praxis im Untersuchungszeitraum keine Rolle. Die anfängliche Skepsis hat sich gewandelt in einen partnerschaftlichen, eher gleichberechtigten Umgang. Entsprechend fühlte sich keiner der Partner übervorteilt, die Verteilung von Kosten und Nutzen, Chancen und Risiken der gemeinsamen Geschäftstätigkeit wurde ganz überwiegend als angemessen dargestellt.
4. Komplexität
Mit Einführung der neuen Rollen der Broker und der als Generalunternehmer fungierenden Teamchefs ist es gelungen, eine übermäßige Zunahme der internen Komplexität der Auftragsabwicklung zu verhindern. Dies wird erkauft durch hohe Qualifikationsanforderungen an die jeweiligen Rollenträger. Mit deren Geschick, extern mit wechselnden Leistungsanforderungen und intern mit wechselnden Partnern produktiv umgehen zu können, steht und fällt die Geschäftstätigkeit der Virtuellen Fabrik. Personalentwicklung ist daher ein strategisch notwendiges Gebot des Managements virtueller Organisationen.
5. Kontrolle
Es wurde ein geordnetes Berichtswesen in der virtuellen Fabrik eingeführt. In diesem System werden die Anfragen und Aufträge nach Kosten und Zeit erfasst, deren wirtschaftliche Vorteile ausgewiesen und die Gründe für Absagen aufgeführt. Darüber hinaus gab es Schritte in Richtung eines gemeinsamen Marketings (gemeinsamer Auftritt auf der Hannover-Industriemesse, Prospekt mit Gesamt-Leistungsprofil, Internet-Auftritt).
6. Entwicklungsperspektiven
Für die weitere Planung war vorgesehen, ausgehend von den erkannten Kernkompetenzen und Leistungsprofilen eine komplementäre “Wunschliste” für Profile künftige Partnerunternehmen zu erarbeiten.
7. Einschätzung
Trotz insgesamt überwiegend positiver Erfahrungen stellten sich während der Projektlaufzeit die Fortschritte in der Geschäftstätigkeit der Virtuellen Fabrik bereichsweise uneinheitlich dar. Während im Geschäftsbereich Produktionsleistungen häufiger und selbstverständlicher zusammengearbeitet wurde, bereitete die Entwicklung gemeinsamer Dienstleistungen noch Schwierigkeiten. Auch die Initiierung und Zusammenarbeit in gemeinsamen Projekten erforderte immer wieder “Anstöße von oben”.
An diesen Schwierigkeiten der einzelnen, beteiligten Organisationen zeigte sich einmal mehr, wie wichtig es für eine effektive Arbeit virtueller Unternehmen ist, dass sich die Organisationen selbst hinreichend verändern und auf die neuen kooperativen Geschäftsprozesse ausrichten.
Noch keineswegs entschieden war zu Ende unserer Arbeiten, ob oder unter welchen Umständen der zur Lösung der genannten Dilemmata zu betreibende Aufwand durch Effizienzgewinne tatsächlich aufgewogen wird. Eine abschließende Beurteilung, ob virtuelle Organisationen eher eine vorübergehende Erscheinung sind oder eine dauerhafte Organisationsform bilden können, steht deshalb noch aus.